Von Peter Schwarz – 20. Oktober 2023
1923 erschütterte eine tiefe wirtschaftliche und politische Krise die deutsche Gesellschaft in ihren Grundfesten. Zum hundertjährigen Jubiläum sind ein halbes Dutzend neue Bücher über dieses „Jahr am Abgrund“ erschienen, verfasst von bekannten Historikern und Journalisten wie Volker Ullrich und Peter Longerich. Offensichtlich sind die damaligen Ereignisse angesichts hoher Inflation, heftiger Klassenauseinandersetzungen und eskalierender Kriege wieder von brennender Aktualität. Die neuen Bücher folgen alle demselben Narrativ: Als Folge von Hyperinflation, Verelendung und Radikalisierung sei die demokratische Republik durch Umsturzversuche von links und rechts in Gefahr geraten und schließlich durch das beherzte Eingreifen der politisch und militärisch Verantwortlichen gerettet worden. Studiert man die Ereignisse genauer – und dazu findet sich in den Büchern teilweise gutes Material –, ergibt sich ein völlig anderes Bild. Die soziale Krise zerfetzte die demokratische Fassade der Weimarer Republik und zeigte, was sie wirklich war: ein Deckmantel für die fortgesetzte Diktatur der alten Eliten des Kaiserreichs – der Großindustriellen, Großgrundbesitzer und Militärs. Reichspräsident Friedrich Ebert, ein Sozialdemokrat, „rettete“ die Republik, indem er die Reichswehr gegen aufständische Arbeiter hetzte, die linken sozialdemokratischen Regierungen in Thüringen und Sachsen gewaltsam des Amtes enthob und die Exekutivgewalt im Reich an den Oberbefehlshaber der Reichswehr, General von Seeckt, übertrug, also faktisch eine Militärdiktatur errichtete. Die Errichtung einer solchen Diktatur war auch das Ziel, das Hitler und General Ludendorff im November 1923 mit ihrem Putsch in München verfolgten.