Von Susann Witt-Stahl – 20. Oktober 2022
In der Ukraine ist eine schrille nationalistische Linke entstanden. Sie ist NATO-Denkfabriken ebenso nützlich wie »demokratischen Sozialisten«, die an einem »Update« der linken Außenpolitik arbeiten.
Ukrainische Linke reden der deutschen Bevölkerung beharrlich ins Gewissen. Im Juni produzierte eine junge Frau auf dem Bundesparteitag der Partei Die Linke in Erfurt Schlagzeilen: »Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie viel Leid gerade ich und meine Familie und die Ukraine durchmachen«, schrie die Kölnerin den Delegierten entgegen, bevor sie für einen Bild-Reporter und dessen Sensationsmeldung »Aufstand gegen den Putin-Kuschelkurs der Linken« mit dem Requisit im Haar posierte, das bei keiner PR-Kampagne für noch mehr Aufrüstung der Ukraine fehlen darf: einem Blumenkranz – dem volkstümlichen Symbol der Reinheit und Unschuld. Wer glaubte, die Linke-Nachwuchspolitikerin wolle eine konsequente Antikriegsposition vortragen, der irrte. »Ich glaube, viele Linke ruhen sich darauf aus, dass wir schon seit gefühlt 2.000 Jahren Friedenspartei sind«, sagte sie dem Spiegel und kam zu ihrem eigentlichen Anliegen: »Ich möchte ein Umdenken bewirken.«
Kein »Blick von links«
Das möchte auch Yana Stepaniuk, die von der Hamburger Bürgerschaftsfraktion der Linken und von der der Partei nahestehenden Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) als »linke Aktivist*in und Journalistin« zu Veranstaltungen eingeladen wurde. Die ukrainische Linke erwarte »zerstörerische Sanktionen« gegen Russland sowie die Lieferung aller Waffen, die die Ukraine fordert, weiß Stepaniuk, die in Berlin Philosophie studiert. Sie ärgert, dass deutsche Linke immer der NATO »an allem Schuld geben« würden, und verlangt von ihnen, dass sie für »Sicherheit und Wohlstand in der Ukraine« kämpfen. Die wachsende Angst vor allem der ärmeren Bevölkerung, dass die Kriegspolitik der Bundesregierung sie ins Elend stürzen wird, findet sie lächerlich. Folglich brachte sie die Demonstration »Heizung, Brot und Frieden« eines linken Bündnisses vor der Grünen-Zentrale in Berlin in Rage: »Ihr wollt die Sanktionen abschaffen und Waffenlieferungen an die Ukraine einstellen, damit Russland ungestört seinen Vernichtungskrieg weiterführen kann.«
Vorgestellt wurde Stepaniuk als Autorin von Polititschna Kritika, der ukrainischen Ausgabe des in Polen erscheinenden liberalen Magazins Krytyka Polityczna – eines Partners der RLS –, dessen Gründer Slawomir Sierakowski, ein Stipendiat der transatlantischen Denkfabrik German Marshall Fund of the United States, Gelder für die Aufrüstung der ukrainischen Armee mit der türkischen »Bayraktar«-Kampfdrohne gesammelt hat.
»Ein Blick von links«, den die Hamburger Linksfraktion bei Stepaniuk ausgemacht haben will, lässt sich schwer erkennen. Das gilt auch für nahezu alle Vertreter von linken Parteien und Organisationen, die in der Ukraine derzeit nicht verboten sind. Mehr oder weniger alle agieren nach der von den Nationalisten diktierten staatskorporatistischen Norm, die in den Worten von Stepaniuk heißt: »Die Rolle der Linken ist, aktiv Solidarität mit der Ukraine zu pushen.«
Klassenkampf für die NATO
Federführend ist die Organisation Sozialnij Ruch (Soziale Bewegung). Sie wurde 2015 von der trotzkistischen Linken Opposition (nicht zu verwechseln mit dem von der Selenskij-Regierung verbotenen gleichnamigen kommunistischen Parteien- und Organisationsbündnis), einigen Akademikern und Gewerkschaftern ins Leben gerufen, die sich zur »neuen Linken« zählen und dem »demokratischen Sozialismus« verpflichtet fühlen – in RLS-Publikationen finden sich viele Beiträge von Mitgliedern ihrer Führungsriege. Sozialnij Ruch gibt sich klassenkämpferisch, fordert »Volks- statt Oligarchenherrschaft«, Verstaatlichung von »strategischen Unternehmen und Banken«, eine verbesserte Gesundheitsversorgung – und unterstützt den Beitritt der Ukraine zur EU; die NATO-Osterweiterung hält sie für eine Notwendigkeit: »Es ist sehr naiv, eine Entmilitarisierung Osteuropas zu verlangen.« Das sei nur Appeasement gegenüber Putin und würde diese Region »anfällig für seine Aggressionen machen«. Denn heute sei der »imperialistische Aggressor Russland, nicht die NATO«, heißt es in einer im April 2022 veröffentlichten gemeinsamen Erklärung von Sozialnij Ruch und der ebenfalls trotzkistischen Russischen Sozialistischen Bewegung, zu der Ilja Budraitskis gehört – ein Historiker aus Moskau, der regelmäßig Beiträge für linksliberale Projekte schreibt. Der Westen müsse mehr Waffen an das ukrainische Militär liefern und die »Niederlage Russlands« herbeigeführt werden, so die beiden Organisationen weiter.
Als Verfechter einer Ausweitung des Ukrainekrieges bis zum Siegfrieden über Russland finden Vertreter von Sozialnij Ruch bei Stiftungen und Denkfabriken in den NATO-Ländern ein großes Echo. Besonders Taras Bilous, der im Februar mit seinem »Brief an die westliche Linke aus Kiew«, der zuerst auf der von der Ford Foundation mitfinanzierten Medienplattform Open Democracy erschien, für Aufsehen sorgte. Nicht zuletzt, weil er darin das Prinzip des proletarischen Internationalismus »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« auszuhebeln versuchte. Bilous taucht seit einiger Zeit bei Veranstaltungen von NATO-Lobbyorganisationen auf, wie zum Beispiel dem Center for Civil Liberties, dem Friedensnobelpreisträger 2022, und dem Kulturprojekt Izolyatsiya, die von der US-Regierung, der EU oder transatlantischen Stiftungen gefördert werden. In einem Interview, das der Leiter des RLS-Büros in der Ukraine, Ivo Georgiev, mit ihm führte, plädierte Bilous für »die Einrichtung von humanitären Korridoren auch gegen den Willen Russlands« – faktisch eine erhebliche Ausweitung des Kreises der Kriegsbeteiligten.
Der Vorsitzende von Sozialnij Ruch, Witali Dudin, misstraut dem Westen – allerdings wegen dessen angeblich zu großer militärischer Zurückhaltung: »Die NATO hätte der Ukraine schon vor langer Zeit eine Mitgliedschaft anbieten können, versprach aber statt dessen irgendeine Art von Zusammenarbeit, die die Ukraine nur verwundbar machte.« Ähnlich äußern sich andere Funktionäre von Sozialnij Ruch. Beispielsweise Sachar Popowitsch, der vor einigen Jahren als »Lügenbaron« und »Betrüger« für Schlagzeilen gesorgt hatte, weil er, gemeinsam mit dem Gründungsmitglied Oleg Wernik, heute Vorsitzender der »unabhängigen Gewerkschaft« Sachist Prazi (Arbeitsschutz), ihrem russischen Genossen Ilja Budraitskis und weiteren Personen, bei westlichen Linken Spendengelder für nicht existierende Organisationen und Zeitungen abkassiert hatte: Eine Einkreisung Russlands durch die NATO finde gar nicht statt, werde lediglich von der »russischen Propaganda an die Wand gemalt«. Der hierzulande von Linken empfohlene zivilgesellschaftliche Widerstand gegen die russische Besatzung und Bemühungen um einen Waffenstillstand seien »paternalistisch und neokolonial«, so Popowitsch und andere Autoren in ihrem in Analyse & Kritik, einem Organ der deutschen interventionistischen Linken, veröffentlichten Aufruf für »einen solidarischen Antiimperialismus« gegen Russland – mit dem angeblich auch die Auflösung der NATO vorangetrieben werden soll. Unter den Mitstreitern findet sich auch Oksana Dutchak, die Warnungen vor der wachsenden Gefahr eines Atomkrieges im Falle einer weiteren Eskalation des Konflikts »für schreckliche linke Positionen gegen den ukrainischen Widerstand« hält.
Dutchak gehört, wie Taras Bilous, Sachar Popowitsch und weitere Mitglieder von Sozialnij Ruch, zum Redaktionskollektiv des ukrainischen Online-Journals Commons, das 2009 gegründet wurde und dessen Hauptfinanzier die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist. Die Zeitschrift hatte zunächst ein linkes Profil, seit dem Euromaidan wurden aber nationalistische Töne angeschlagen; heute finden sich, neben Artikeln zu emanzipationspolitischen und ökologischen Themen, allerlei Agitationen gegen Verhandlungslösungen und für den Eintritt linker Aktivisten in die Streitkräfte – vor allem aber NATO-Propagandamythen, die die zentrale Rolle des US-amerikanischen Finanzkapitals, der westlichen Rüstungskonzerne und anderer Profiteure des Krieges ausblenden: »Die Entscheidung, sich der russischen Besatzung zu widersetzen, wurde weder von Joseph Biden noch von Selenskij getroffen, sondern vom ukrainischen Volk«, gab Taras Bilous in Commons zum Besten.
Am Tropf der CIA
Eine enge personelle Verflechtung besteht auch zwischen Sozialnij Ruch und dem Center for Social and Labour Research (CSRL) in Kiew, das 2013, im Jahr des Beginns des Euromaidans, »als ein unabhängiges nichtkommerzielles Zentrum für die Analyse sozioökonomischer Probleme, kollektiven Protests, Arbeitsverhältnisse und Konflikte« gegründet worden war. Oksana Dutchak ist stellvertretende Leiterin, Witali Dudin und Sachar Popowitsch sind Mitarbeiter der Einrichtung, die ebenfalls ein Partner der RLS ist.
Eine nähere Betrachtung von Forschungsprojekten des CSRL lässt Zweifel an dessen Unabhängigkeit aufkommen: Eine in dem Zeitraum 2009 bis 2016 erarbeitete Studie über die Protestbewegungen in der Ukraine, zu deren Koordinatoren Oksana Dutchak gehörte, wurde von der International Renaissance Foundation unterstützt, die von dem Oligarchen George Soros, einem der umtriebigsten Regime-Change-Sponsoren weltweit, Anfang der 1990 Jahre gegründet worden war. Aber nicht nur das: Auch die Denkfabrik National Endowment for Democracy (NED) – verlängerter Arm der CIA –, die die »Orange Revolution« 2004 in der Ukraine und rund um den Globus antikommunistische Putschbewegungen etwa gegen Kuba und Venezuela mit gesteuert hat, war mit im Boot.
»Informationen über Arbeiterstreiks und Proteste im ganzen Land waren für das NED (und die CIA) zweifellos von großem Wert«, erklärt der Autor und Rechtsanwalt Eric London, warum Regierungen der USA sieben Jahre lang Geld in das Projekt des CLSR gepumpt haben könnten. London, der seit Jahren zur Infiltration der internationalen trotzkistischen Bewegung durch westliche Geheimdienste und das FBI via Stiftungen und andere NGOs recherchiert, liefert auch eine lange Reihe von Indizien für weitere Verbindungen von Sozialnij Ruch zum NED und zu US-Regierungen: Er hat etwa Kontakte von einzelnen Mitgliedern zum von dem Thinktank finanzierten American Center for International Labor Solidarity des Gewerkschaftsbunds American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations (AFL-CIO) und zur CIA-nahen United States Agency for International Development (USAID) freigelegt. Das AFL-CIO ist »so eng mit den Geheimdiensten verbunden«, »dass es im Volksmund ›AFL-CIA‹ genannt wird«. London verweist darüber hinaus auf einen USAID-Bericht von 2021, in dem der Einfluss des Solidarity Centers in der Ukraine gewürdigt wird, ebenso die guten Beziehungen zu seinem Partner, der Konföderation freier Gewerkschaften in der Ukraine (KWPU), und deren Mitglied Unabhängige Bergarbeitergewerkschaft der Ukraine (NPGU), die als Konkurrenz zu den traditionellen Gewerkschaften in der postsowjetischen Ära gegründet wurden und am Euromaidan beteiligt waren.
Gangster-Gewerkschaften
Nach eigenen Angaben von Sozialnij Ruch gehören die meisten ihrer Mitglieder einer dieser neuen Gewerkschaften an. Ein Aktivist von Sozialnij Ruch ist Vorsitzender der NPGU in Kriwij Rig, die von der Organisation unterstützt wird und mit der die RLS bis heute zusammenarbeitet. Chef der NPGU auf nationaler Ebene ist Michailo Wolinez, der auch Vorsitzender der KWPU, Abgeordneter der nationalistischen Vaterlandpartei in der Werchowna Rada und ein Vertrauter Julia Timoschenkos ist. Die Vita von Wolinez erinnert nicht zuletzt aufgrund von dessen blendenden Verbindungen zu diversen Gangsteroligarchen an Brechts Parabel »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui«. Er gilt als durch und durch korrupt und hatte bereits in den 1990er Jahren begonnen, die Gewerkschaftsarbeit zu privatisieren und zu einem lukrativen Geschäftsmodell zu entwickeln – nicht zuletzt mit dem Betriebszweck, Lohnabhängige und Großunternehmer sukzessive zu einer ukrainischen Arbeitsfront zu formieren und den Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital ideologisch zu vernebeln. Laut ukrainischen Presseberichten aus der Zeit vor Einführung der Medienzensur und -gleichschaltung gibt es zahlreiche Beweise dafür, dass Wolinez Geld von professionellen Raidern genommen hat, um Minenbesitzer mit Hilfe von Arbeiterstreiks zu erpressen und zu zwingen, ihre Unternehmen für Spottpreise an Konkurrenten zu verkaufen. Längst Multimillionär, der unter anderem mit den Gewinnen aus eigenen Offshore-Unternehmen Immobilien in den USA erworben haben soll, wo er auch eine Zeit gelebt hat, engagiert sich Wolinez für den NATO-Beitritt der Ukraine und unterhält auch beste Beziehungen zur AFL-CIO, von der die KWPU über mindestens zwei Jahrzehnte finanzielle und organisatorische Unterstützung erhalten haben soll.
Und so wundert es nicht, dass Wolinez’ Gewerkschaften im Stellvertreterkrieg gegen Russland fest an der Seite der ukrainischen Regierung und der NATO stehen. Die NPGU will sogar eine Flugverbotszone durchsetzen und damit offenbar einen dritten Weltkrieg billigend in Kauf nehmen. Der KWPU ist jede schlagende Verbindung als Bündnispartner recht: 2016 demonstrierte sie gemeinsam mit dem faschistischen »Asow«-Zivilkorps und Vertretern des »Rechten Sektors« unter anderem für den Stopp des Kohleimports aus der nicht anerkannten Volksrepublik Donezk und entsendete Igor Knjaschanski alias »Duschman« (Unterdrücker), einen berüchtigten Nazi, zu Verhandlungen mit dem Energieminister – um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. 2019 verteidigte Wolinez das »Asow«-Regiment gegen die Initiative einiger US-amerikanischer Kongressabgeordneter, es als das einzustufen, was es vor allem ist: eine Terrororganisation.
Jagd auf »rote Putinisten«
Das alles hält viele deutsche Linke nicht davon ab, die kruden Positionen dieser Gewerkschaften mit bemerkenswerter Emphase zu ventilieren. Die Redaktion von Analyse & Kritik beispielsweise etikettiert KWPU und NPGU, neben anderen Kriegs- und NATO-Propagandisten, einfach zu »linken Stimmen« des »Widerstands in der Ukraine« um.
Sozialnij Ruch wird als das Sprachrohr der ukrainischen Linken apostrophiert – obwohl sie die prosowjetische marxistische Linke diskreditiert, deren Mitglieder seit dem Maidan-Putsch vom Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) und von Nazis brutal verfolgt, ins Exil getrieben, inhaftiert oder sogar umgebracht wurden. In einer Erklärung anlässlich des von Präsident Selenskij ausgesprochenen Verbots oppositioneller Parteien im März 2022, das die Organisation laut eigenen Angaben nicht befürwortet, nährte Sozialnij Ruch gegen Kommunisten und Sozialisten den Verdacht der Kollaboration mit dem Kreml (der nicht selten den Tod der Beschuldigten zur Folge hat); ihr Chef, Witali Dudin, behauptete gegenüber der Wochenzeitung Jungle World, dass die KP der Ukraine »tatsächlich bis zu einem gewissen Grad ein Agent des russischen Imperialismus gewesen« sei.
Der Kiewer RLS-Bürochef Ivo Georgiev, ein nationalistischer Scharfmacher, erörterte mit Taras Bilous gar die Frage, ob die Ausschaltung oppositioneller Parteien »in der jetzigen Situation hilfreich« gewesen sei – ohne explizit zu erklären, für wen eigentlich. Die Antwort fiel negativ aus, die Begründung ist aufschlussreich: Es schade der »gesellschaftlichen Einigung, die in den ersten Tagen des Krieges entstanden ist«, lässt Bilous keinen Zweifel daran, dass die ukrainische Volksgemeinschaft für ihn über Demokratie und Meinungsfreiheit steht.
»Keine linke Partei oder Organisation, die sich nicht durch direkte Verbindungen mit dem Aggressor oder Arbeit für ihn befleckt hat«, sei auf Selenskijs Verbotsliste zu finden, legitimiert auch Oleg Wernik zumindest indirekt die Hetzjagd auf in der Tradition der Sowjetunion stehende Linke, die in seinem Milieu als »Raschisten« oder »rote Putinisten« tituliert werden. Und damit die SBU-Schergen nur ja niemanden vergessen, veröffentlichte er in den sozialen Medien einen fünf Jahre alten politischen Aufruf von einem bekannten Antifaschisten aus Kiew zu einer Kundgebung für die Entnazifizierung der Ukraine – ein Fall von Denunziation. »Ich verstehe nicht, warum sie ihn nicht längst ins Gefängnis gesteckt haben«, empörte sich eine mit Wernik sympathisierende »Anarcho-Postmarxistin«, dass die Häscher noch nicht konsequent genug durchgegriffen haben.
»Seit 2014 die linken Massenorganisationen zerschlagen wurden und die Akteure nicht mehr öffentlich auftreten können, weil das Repressalien gegen sie und ihre Angehörigen nach sich ziehen würde, sind Stimmen von regierungstreuen Linken laut geworden, die den Behörden bei der Strafverfolgung Oppositioneller helfen«, berichtet der Publizist Igor Daschko* im Gespräch mit jW, der für ein marxistisches Magazin schreibt und aus dem Land flüchten musste.
Postmodern, irrational und nihilistisch
Die Tragödie der marxistischen Linken in der Ukraine wird von der Farce einer schrillen Poplinken überblendet, die vom postmodernen Credo »Anything Goes« angetriebenen ist und durchaus auch bei verwirrten deutschen Linken Anklang findet mit den grotesken Ideologemen, die sie ausbrütet: Anarcho-Nationalismus und -Militarismus, morbiden Hedonismus und Obskurantismus, wie ihn eine Vertreterin des Queer Labs aus Lwiw mit einem »Satan loves you«-Tattoo im Gesicht in Analyse & Kritik demonstrierte: Die Gruppe akquiriert Gelder für die ukrainische Armee, dient ihrem Vaterland mit einem reichhaltigen Piercing- und Massagen-Angebot, tritt für »gewaltfreie Kommunikation«, aber nicht gegen Waffengewalt ein und mobilisiert gegen das »homophobe Regime« Russlands – nicht jedoch gegen die Nazihorden im eigenen Land, unter denen »Pidorasi«-Klatschen (das in der Regel straffrei bleibt) immer noch zu den beliebtesten Freizeitvergnügungen gehört. Nicht minder irre ist die linke Hooliganszene, etwa der »antifaschistische« Hoods Hoods Klan des FK Arsenal Kiew, der von deutschen Linksautonomen, beispielsweise aus dem Umfeld der Roten Flora in Hamburg, verehrt wird: Im Kampf gegen den »neuen Hitler« in Moskau haben seine Mitglieder »Spaß« daran, »russische Schweine zu killen«, so einer seiner Sprecher in einer Filmdokumentation, an deren Ende der Gruß der faschistischen Banderisten skandiert wird.
In der postsowjetischen Ukraine wurde eine Proxy-Linke mit einer prowestlichen imperialen Ideologie herangezüchtet, wie sie in den 1940er Jahren von Max Shachtman vertreten worden ist. Der ehemals marxistische Publizist propagierte US-amerikanische Kriege, vor allem gegen nationale Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und schuf die politischen Grundlagen für den Neokonservatismus, der seit der welthistorischen Niederlage des Realsozialismus mit bizarren Auswüchsen wie den »Antideutschen« auch in der hiesigen Linken wütet. Teile der ukrainischen Linken heute sind aber nicht nur antikommunistisch, sondern auch hinter die Erkenntnisse der historischen Aufklärung und emanzipatorischen Errungenschaften des bürgerlichen Humanismus in finsteren Irrationalismus und Nihilismus zurückgefallen. Sie assistieren der Selenskij-Regierung, dem Kompradorenkapital und bis an die Zähne bewaffneten Rechten dabei, der ukrainischen Gesellschaft genau das nekrophile Potential einzuimpfen, das die NATO für ihren Krieg gegen Russland bestellt hat – der jederzeit zum atomaren Desaster eskalieren kann.
Dazu gehört auch die Verharmlosung der Machtausübung der Faschisten. »Anders als 2014 spielt die extreme Rechte keine prominente Rolle im gegenwärtigen Krieg«, behauptet Sozialnij Ruch. Yana Stepaniuk hält die rechtsextremen Kampfeinheiten für vernachlässigungswürdige Randerscheinungen und es nicht mehr aus, dass in der deutschen Linken »immer noch über ›Asow‹ gesprochen« wird. Das meint auch Taras Bilous, der das Narrativ vom »russischsprachigen Juden« Selenskij in Stellung bringt, mit dem der Westen routinemäßig Berichte über die Verbrechen ukrainischer Nazimilizen als »Lügenmärchen des Kremls« desavouiert. Und Ivo Georgiev macht lieber die Linke für das verantwortlich, was seine Mitstreiter verdrängen: Die RLS werde in der Ukraine »als prorussische Organisation wahrgenommen« und mit der Linkspartei gleichgesetzt, weil »viele deutsche Linke sich zu Komplizen Russlands gemacht« hätten, beklagt er. »Das hat uns unglaublich geschadet und uns zur Zielscheibe gemacht, auch von rechtsradikaler Gewalt«.
Der Historiker Kirilo Tkatschenko betrachtet die deutsche Linke sogar als das einzig wahre Übel: »Der Dreck unter einem einzigen Fingernagel des allerletzten ›Asow‹-Kämpfers ist mehr wert als die germanische Linke in ihrer Gesamtheit«, brachte Tkatschenko in Jungle World die steilen Thesen der neuen ukrainischen Linken polemisch zugespitzt auf den Punkt – den viele ihrer Verbündeten in der Linkspartei und »undogmatischen Linken« hierzulande schon lange hinter die marxistisch-leninistische Traditionslinie setzen möchten. Tkatschenko hat früher mit der RLS zusammengearbeitet, sich mittlerweile aber offiziell von der Linken verabschiedet, wird heute, wie viele nationalistische Autoren aus der Ukraine, von transatlantischen Qualitätsmedien hofiert und von der Zeit-Stiftung gefördert. Schließlich hat er als »intrinsisches Merkmal« der antiimperialistischen Linken entdeckt, dass sie Schnittmengen mit der extremen Rechten (»Antiamerikanismus«, die »Feindbilder« NATO, EU und »›korrupte‹ Eliten«) und eine »rot-braune Koalition« mit dieser geschmiedet habe.
Pervertiertes Geschichtsargument
Westliche Stiftungen und NGOs, auch die deutschen, auch die linken, hätten in der Ukraine immer nur mit Vertretern des Nationalismus und praktisch nie mit Marxisten kooperiert, meint Igor Daschko. »Es war einfacher für sie, mit Betrügern umzugehen, die nur den Kreml und nicht ihre eigene Regierung kritisieren.« Es sei über die Jahre eine »für beiden Seiten nützliche Beziehung« aufgebaut worden. »Die linksnationalistischen NATO-Unterstützer in der Ukraine sagen genau das, was die westlichen Eliten von ihnen hören wollen.« Es ist auch Musik in den Ohren der Transatlantiker in der Partei Die Linke: »Linke Außenpolitik braucht endlich ein kluges Update«, forderte die Bundestagsabgeordnete und ehemalige Vizefraktionschefin Caren Lay bereits Anfang März und explizit in Anlehnung an den Appell von Taras Bilous »an die Linke im Westen«, dessen zentrale Botschaft objektiv lautet: Der Hauptfeind steht in Moskau.
»In der bestehenden Situation treffen sich in der Tat einige Interessen der internationalen sozialistischen Bewegung mit denen der westlichen Regierungen, wie es beispielsweise auch zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges vorgekommen ist«, ergänzte Bilous im Gespräch mit Ivo Georgiev. Solche Aussagen bringen die Revanchisten im Täterland in Bombenstimmung. Erst recht, wenn Ukrainer Russland zur »Heimat des Nazismus« erklären (so hieß es unlängst auf einem Plakat von Claqueuren Kiews gegen eine Kundgebung des Friedenslagers in Hamburg), weil sie ihm seine sowjetische Vergangenheit nicht verzeihen können. Denn dann kann man »das Geschichtsargument ganz anders drehen«, wie Stepaniuk es verlangt, und es derart pervertieren, dass mit Verweis auf den Blutzoll der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg Solidarität mit den historischen Erben der ukrainischen Kollaborateure Hitlerdeutschlands zum neuen vergangenheitspolitischen Imperativ erhoben wird.
Aus: junge Welt, Ausgabe vom 20.10.2022, Seite 12/Thema Krieg in der Ukraine