Von Leo Ensel – 2. Juni 2024
Hat der Westen, hat Deutschland mit der offiziellen Genehmigung an die Ukraine, Russland mit den gelieferten Waffensystemen auch in der Tiefe seines Territoriums zu attackieren, den Rubikon überschritten? Der Alltag jedenfalls läuft ungerührt weiter. – Wie im Sommer 1914.
„Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt – Nachmittag Schwimmschule.“
(Franz Kafka am 2. August 1914 in seinem Tagebuch)
Ein kleiner ernstgemeinter Hinweis im Sinne des Eingangszitats: Bitte notieren Sie unbedingt, was Sie am Freitag, den 31. Mai 2024 getan haben, damit Sie antworten können, wenn Ihr Enkel Ihnen in einigen Jahrzehnten die entsprechende Frage stellen sollte! (Und das ist noch eine vergleichsweise ‚moderate‘ Zukunftsoption…)
Wir schlafwandeln auch
In der Retrospektive kommen wir uns alle so schlau vor. Fassungslos schütteln wir den Kopf, wenn wir sehen, mit welcher Euphorie die jungen Männer aller europäischen Staaten, flankiert von einer kriegstrunkenen Bevölkerung, vor genau hundertundzehn Jahren in ein Gemetzel zogen, das sich wenig später als die „Urkatastrophe des XX. Jahrhunderts“ erweisen sollte. Es erscheint uns absurd, dass jemand wie Franz Kafka am 2. August 1914 in seinem Tagebuch diese Urkatastrophe im selben Atemzug mit den banalsten Alltagsaktivitäten notierte. Wir bekommen den Mund nicht zu, wenn wir sehen, wie ein brüllender Kretin später in den Zwanziger und Dreißiger Jahren große Teile eines ganzen Volkes in seinen Bann ziehen konnte.
Und wir verehren umgekehrt einen Mann wie Karl Liebknecht, der am 2. Dezember 1914 als einziger Reichstagsabgeordneter den Mut hatte, gegen die Bewilligung des milliardenschweren Sondervermögens zur Kriegsfinanzierung zu stimmen. (Sein Engagement gegen den Krieg brachte ihm eine mehrjährige Zuchthausstrafe ein.)
‚Wie fahrlässig, wie dumm die meisten Menschen damals doch waren!‘ So denkt es unterschwellig in einem. Und noch etwas tiefer, aber gerade noch vernehmbar: ‚So etwas könnte uns, könnte mir heute nicht passieren!‘
Wirklich? Die platte Wahrheit lautet: Hinterher ist man immer schlauer! Nur halt nicht in der Gegenwart.
In Wirklichkeit geht es uns genauso wie den Generälen, die bei der Planung des kommenden Krieges auf keinen Fall die Fehler des letzten wiederholen wollen – und damit gleich den nächsten Fehler begehen!
Kurz: Wir ‚schlafwandeln‘ auch. Nur anders.