Interview mit Jacques Baud – Interview: Zeitgeschehen im Fokus – 31. Oktober 2024
Zeitgeschehen im Fokus: In welchem Stadium befindet sich aktuell der Ukraine-Krieg?
Jacques Baud: Es ist die exakte Fortsetzung dessen, was wir seit Oktober 2022 beobachten, als General Surowikin erklärte: »Wir haben eine andere Strategie. […] Wir streben nicht nach einer hohen Vorwärtsgeschwindigkeit, wir schonen jeden unserer Soldaten und ›zermalmen‹ methodisch den vorrückenden Feind.« Russland rückt auf der gesamten Länge der Frontlinie vor, und die ukrainischen Streitkräfte ziehen sich zurück oder geben den Kampf auf. Die Frage ist nicht mehr militärisch, sondern politisch. In Wuhledar erhielt die 72. Brigade, die die Stadt – damals eingekesselt – verteidigte, den Befehl, um jeden Preis durchzuhalten, bis Selenskyj aus New York zurückkehrte! Heute ist die Stadt in die Hände der Russen gefallen. Es ist die Rückkehr des »Durchhaltebefehls», den Hitler dem Feldmarschall von Paulus, dem Kommandeur der 6. Deutschen Armee in Stalingrad, gegeben hatte. Das war damals ein Beispiel für Inkompetenz, und das ist es auch heute noch in der Ukraine.
Laut dem Generalstaatsanwalt der Ukraine wurden allein im Jahr 2024 mehr als 51.000 Fälle von Desertion eröffnet. Desertion ist ein endemisches Phänomen in der ukrainischen Armee. Dies war übrigens einer der Gründe, weshalb ich 2014 in die Ukraine entsandt wurde. Heute setzt die ukrainische Armee sogenannte «Motivationstruppen» ein, die auf Deserteure schießen, um sie zum Kämpfen zu zwingen. Sie werden von den rechtsextremen »AZOV«-Einheiten gebildet, die es laut den Journalisten des Westschweizer Fernsehens nicht gibt!
Was den Zustand der Streitkräfte selbst betrifft, so ist die vom Westen gelieferte Ausrüstung nach wie vor äußerst unzureichend. In einem Interview mit CNN sagte Selenskyj, dass Russland bei Artilleriegeschossen im Verhältnis 12:1 überlegen sei. Die Hilfe bei der Luftabwehr, die in der Ukraine dringend benötigt wird, scheint der Westen lieber Israel zu geben.
Zeitgeschehen im Fokus: Was erreichte Selenskyj mit seinem »Siegesplan«?
Dieser Plan für den Sieg ist eine Art verzweifelte Bewegung, um den Westen dazu zu bringen, sich in eine Situation einzumischen, die sich für die Ukraine von Tag zu Tag verschlechtert. Er soll die Umsetzung der »10-Punkte-Formel« ermöglichen, die Selenskyj Ende 2022 ausgearbeitet hatte und von der eine reduzierte Version am 15. und 16. Juni auf dem Bürgenstock diskutiert wurde. Dies zeigt, dass diese von der Schweiz organisierte Friedenskonferenz nichts anderes war, als »den Pflug vor die Ochsen zu spannen«.