Nichts ist klar, und alles ist möglich: … Der russische Staatspräsident gibt den Mord an seinem im Westen bekanntesten Oppositionspolitiker in Auftrag. Zugleich ordnet er auch noch an, dass dieser Mord mit einem international geächteten Kampfstoff ausgeführt wird, der schon bei anderen Anschlägen „nicht das Ergebnis hatte, das bei einem Mordanschlag beabsichtigt ist“ (Sahra Wagenknecht). Ein Kampfstoff, der aber vor allem, wenn er je nachgewiesen werden könnte, eindeutige Spuren zum FSB, dem russischen Geheimdienst, legen und damit auch unmittelbar auf den Kreml hindeuten würde. Nachdem dies gescheitert ist, lässt der Präsident zu, dass dem Opfer dieses Anschlages zunächst in einem russischen Krankenhaus das Überleben gesichert wird, es gelingt ihm während dieser Zeit nicht, die begonnene Tat an dem hilflos im Koma liegenden Opfer zu vollenden. Stattdessen erlaubt es der Präsident – oder weiß es jedenfalls nicht zu verhindern –, dass dieses Anschlagsopfer zwei Tage später nach Deutschland ausgeflogen wird, womit neben dem Überleben des Opfers auch geradezu sichergestellt ist, dass der von ihm zuvor eingesetzte Kampfstoff nachgewiesen werden kann. All dies geschieht genau in der finalen Phase der Debatte um die umstrittene russisch-europäische Gaspipeline Nord Stream 2 kurz vor Fertigstellung dieses Projekts und gerade mal vierzehn Tage nach erneuten und verschärften Sanktionsdrohungen gegen am Bau beteiligte Firmen durch den US-Außenminister und in Lobbydiensten stehende US-Senatoren. Die Tat verschafft damit den Gegnern der Pipeline politischen Rückenwind.
Am Montag veröffentlichten CNN und Der Spiegel in Zusammenarbeit mit Bellingcat und dem russischen Magazin The Insider ausführliche Reportagen über den angeblichen Giftanschlag auf den rechten russischen Oppositionellen Alexej Nawalny. Die Medien behaupten, die Mitglieder einer „Eliteeinheit des [russischen Inlandsgeheimdiensts] FSB“ identifiziert zu haben, die angeblich den Auftrag hatte, Nawalny mit dem Nervengift Nowitschok zu töten.
Das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ hat in einer als Eilmeldung deklarierten und in dramatischem Tonfall gehaltenen mehrseitigen Geschichte die angeblichen Schuldigen für den Anschlag auf Kreml-Kritiker Alexej Nawalny präsentiert. Allerdings ist auch diese Sensationsstory nichts weiter als peinliche antirussische Hetze in Reinkultur. „Das sind die Männer, die Nawalny töten sollten“, lautet die Schlagzeile, die in dieser Dramatik auch in der Titelredaktion der „Bild“-Zeitung entstanden sein könnte. Der Teasertext wird sogar noch konkreter: „Mindestens acht Agenten des russischen Geheimdienstes FSB waren nach Recherchen von SPIEGEL, Bellingcat und weiteren Partnern offenbar am Giftanschlag auf Alexej Nawalny beteiligt.“ Nach Nennung der fünf Autoren, die das Hamburger Nachrichtenmagazin für diese Story aufgeboten haben will, erwarten durchschnittlich gebildete Leser eigentlich konkrete Nachweise wie etwa: Iwan der Schreckliche träufelte Alexej Nawalny eine Dosis Nowitschok in sein Nasenloch, während ihn der Agent Grigori Rasputin festhielt.
Die britische Zeitung Sunday Times liefert vermeintlich sensationelle Details im Fall Alexei Nawalny. Der russische Politblogger soll gleich zwei Mal von Kreml-Agenten mit Nowitschok vergiftet worden sein. Man beruft sich auf anonyme Quellen bei deutschen Geheimdiensten. Der russische Blogger Alexei Nawalny soll am 20. August vor seinem Flug aus dem sibirischen Tomsk nach Moskau mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden sein. Dies behauptet zumindest die deutsche Bundesregierung. Nach einer Notlandung wurde Nawalny bis in die Morgenstunden des 22. August im sibirischen Omsk behandelt, bevor er nach Deutschland in die Berliner Charité ausgeflogen wurde. Bislang sind die Medien nur von einer einmaligen Vergiftung mit Nowitschok ausgegangen. Die Sunday Times behauptet nun, Nawalny sei ein zweites Mal vergiftet worden: nach seiner Behandlung in Omsk und vor seinem Abflug nach Berlin.
Die BRD und ihre Verbündeten missbrauchen die OPCW, um politischen Druck auf die Russische Föderation auszuüben, so die russische Delegation bei der Eröffnung der 25. Sitzung der Mitgliedsstaaten. Deutschland verletzte zudem die vertraglich zugesicherte Mitwirkungspflicht. – In der Affäre um die mutmaßliche Vergiftung des russischen oppositionellen Bloggers Alexei Nawalny (angeblich mit einem chemischen Kampfstoff der sogenannten Nowitschok-Gruppe) ertönen erneut Forderungen nach Transparenz an Russland – diesmal auf der 25. Jahressitzung der OPCW in Den Haag. Russlands Vertreter sehen die Schuld am Stillstand der Aufklärung in dieser Sache bei just denjenigen, die derartige Töne spucken, und werfen diesen wiederum schwere Verstöße gegen völkerrechtliche Abkommen vor.
Bellingcat, Spiegel und Co. wollen Hinweise mit den Anschlägen auf Skripal und Nawalny entdeckt haben, aber die herausgestellten Zusammenhänge gleichen eher dem Muster von Verschwörungstheorien. – Die Entwicklung des Nervenkampfstoffs soll in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht eingestellt, sondern fortgeführt worden sein. Angeblich haben seit 2010 zwei russische Forschungszentren toxische Wirkstoffe aus der Nowitschok-Gruppe entwickelt. Sie sollen eng mit Agenten des russischen Geheimdienstes GRU zusammengearbeitet haben. Das Nowitschok, mit dem ein – gescheiterter – Anschlag auf Sergei und Julia Skripal 2018 in Salisbury angeblich von zwei GRU-Agenten durchgeführt wurde, soll aus diesen Forschungszentren stammen. Das wollen in bewährter Kooperation Bellingcat, The Insider und Der Spiegel aufgrund von abgehörten Telefongesprächen und Ortungsdaten herausgefunden haben. Unterstützt wurden sie vom amerikanischen Auslandssender RFE/RL.
Die EU hat gestern einstimmig Sanktionen gegen einzelne russische Regierungsmitglieder ausgesprochen, die angeblich an der Vergiftung von Alexei Nawalny beteiligt bzw. für sie verantwortlich sein sollen. Für Wladimir Putin, den viele und natürlich auch Nawalny selbst für verantwortlich halten, konnte und wollte man kein Einreiseverbot verhängen. Die Begründungen für die Sanktionen sind Vermutungen, die als plausibel vorausgesetzt werden.
Im Vorfeld des für den 12. Oktober geplanten EU-Gipfels hat die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) einen Bericht veröffentlicht, laut dem der russische Oppositionspolitiker Alexei Nawalny mit einer Nowitschok ähnlichen Substanz vergiftet wurde. Es handele sich um eine als Cholinesterasehemmer wirkende Chemikalie, die selbst nicht auf der OPCW-Liste verbotener Substanzen stehe, solchen Stoffen in ihrer Struktur aber ähnlich sei.
Der Cheftoxikologe des Föderalen Bezirks Sibirien sowie des Gebiets Omsk und Abteilungsleiter des Krankenhauses Nr. 1 der Stadt Omsk, Dr. med. Alexander Sabajew, gewährt in einem Interview detaillierte Einblicke in die Behandlung Alexej Nawalnys, bevor der oppositionelle Blogger nach Deutschland ausgeflogen wurde.
Wir dokumentieren im Folgenden die gemeinsame Erklärung der Außenminister von Frankreich und Deutschland zum Fall Nawalny sowie die auf diese Erklärung bezogene Stellungnahme der Pressesprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa.
Zum Fall Nawalny erklärten Außenminister Heiko Maas und sein französischer Amtskollege Jean-Yves Le Drian heute gemeinsam (7. Oktober 2020):
Frankreich und Deutschland bekräftigen, dass sie die Vergiftung von Alexej Nawalny auf russischem Hoheitsgebiet durch Einsatz eines militärischen Nervenkampfstoffs der von Russland entwickelten Nowitschok-Gruppe in aller Schärfe verurteilen. Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) hat die Befunde unserer beiden Länder gestern bestätigt.
Wie in unserer gemeinsamen Erklärung am 4. September betont, untergräbt dieser grausame Mordversuch die grundlegenden Prinzipien von Demokratie und Pluralismus. Zudem ist er ein weiterer schockierender Fall des Einsatzes einer Chemiewaffe, zwei Jahre nachdem am 4. März 2018 eine ähnliche Waffe von Russland auf britischem Hoheitsgebiet, in Salisbury, eingesetzt worden war.
Ein Mordversuch hat auf russischem Boden stattgefunden; er richtete sich gegen einen russischen Oppositionellen und wurde mit einem von Russland entwickelten militärischen Nervenkampfstoff verübt.
In Anbetracht dieser Umstände haben Frankreich und Deutschland Russland wiederholt aufgefordert, die Umstände dieses Verbrechens vollständig aufzuklären und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Bislang ist von Russland keine glaubhafte Erklärung geliefert worden. Daher sind wir der Ansicht, dass es keine andere plausible Erklärung für die Vergiftung von Herrn Nawalny gibt als eine russische Beteiligung und Verantwortung.
Frankreich und Deutschland werden die notwendigen Schlüsse aus diesen Tatsachen ziehen und ihren europäischen Partnern Vorschläge für zusätzliche Sanktionen unterbreiten. Die Vorschläge werden auf Einzelpersonen abzielen, die aufgrund ihrer offiziellen Funktion als verantwortlich für dieses Verbrechen und den Bruch internationaler Rechtsnormen gelten, sowie auf eine Einrichtung, die in das Nowitschok-Programm eingebunden ist.
Frankreich und Deutschland stehen weiterhin mit ihren Partnern in Kontakt, um über weitere Maßnahmen als Antwort auf diese Verletzung des Chemiewaffenübereinkommens (CWÜ) zu entscheiden.
Die Regierungen von Frankreich und Deutschland bringen gegenüber Herrn Nawalny und seiner Familie erneut ihre uneingeschränkte Solidarität zum Ausdruck und übermitteln ihm beste Wünsche für eine baldige Genesung.
https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/maas-le-drian-nawalny/2403032 Gemeinsame Erklärung der Außenminister von Frankreich und Deutschland zum Fall Nawalny
Stellungnahme der Pressesprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa zur gemeinsamen Erklärung der Außenminister von Frankreich und Deutschland zum Fall Nawalny, 8. Oktober 2020
Die von Inhalt und Tonalität her unakzeptable Erklärung der beiden Minister signalisiert, dass Paris und Berlin ausdrücklich nicht gewillt sind, Fakten Rechnung zu tragen, die mehrfach von russischen Vertretern vorgetragen wurden.
Anstatt im Sinne der Aufklärung der Umstände des Vorfalls mit dem Blogger mit der Russischen Föderation wie geboten zusammenzuarbeiten, gehen die Regierungen von Deutschland und Frankreich nun zu Drohungen und Erpressungsversuchen gegen uns über. Sie rufen die Europäische Union auf, weitere Sanktionen gegen russische natürliche und juristische Personen zu beschließen, und setzen sich schlicht und ergreifend über die eigenen Verpflichtungen aus dem Europäischen Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen hinweg. Alle Ersuchen von Russlands Generalstaatsanwaltschaft, die im Rahmen des Übereinkommens gestellt werden, werden ignoriert.
Unsere Kollegen haben wir mehr als einmal darauf hingewiesen, dass es unzulässig ist, unsere zahlreichen über verschiedene Kanäle erfolgten Anfragen außer Acht zu lassen. Die Reaktion bleibt jedoch aus. Man scheint dort in Intrigen kopfüber versunken zu sein, die hinter den Kulissen gesponnen werden. Russische Ersuchen, die sowohl bilateral als auch ans Technische Sekretariat der OVCW gestellt werden, werden demonstrativ nicht beachtet.
Allem Anschein nach stellen sich Frankreich und Deutschland an die Spitze einer „antirussischen Koalition“, die sich in der Europäischen Union formiert, und das trotz mehrfacher bisheriger Beteuerungen aus Berlin und Paris, man bekenne sich zur Partnerschaft mit Russland.
Von unserer Seite wollen wir bekräftigen: Wenn die Kollegen bereit sind, diesen Konfrontationskurs zu überdenken, indem sie auf Diktatversuche verzichten, sind Möglichkeiten der Normalisierung offen. Wenn nicht, dann werden wir unsere Schlussfolgerungen ziehen. Wie dem auch sei, „business as usual“ mit Berlin und Paris halten wir nicht für möglich.