Von Dmitri Trenin – 21. Juni 2024
Im Kalten Krieg hat es funktioniert: Angriffskriege waren undenkbar, weil alle wussten, dass ein Krieg mit nuklearen Waffen das Ende der Menschheit bedeuten kann. Doch dieser Mechanismus hat weitgehend ausgedient, sagt der russische Politologe Dmitri Trenin, und erklärt, warum. (cm)
Die nukleare Abschreckung ist kein Mythos. Sie hat uns und der ganzen Welt während des Kalten Krieges Sicherheit gegeben. Abschreckung ist eine psychologische Kategorie. Man muss einen nuklear bewaffneten Gegner davon überzeugen, dass er seine Ziele nicht erreichen wird, wenn er uns angreift, und dass er im Falle eines Krieges sicher sein kann, selber vernichtet zu werden. Die gegenseitige nukleare Abschreckung der UdSSR und der USA während ihrer Konfrontation im Kalten Krieg wurde durch die Realität der gegenseitig zugesicherten Vernichtung im Falle eines massiven Austauschs von Atomschlägen verstärkt. Im Englischen sieht die Abkürzung für Mutual Assured Destruction übrigens aus wie MAD („Wahnsinn“).
Für die „Mythologisierung“ der nuklearen Abschreckung gibt es mehrere Gründe. Seit dem Ende des Kalten Krieges ist der Glaube weit verbreitet, dass jeder denkbare Grund, der zu einem Atomkrieg führen könnte, verschwunden ist. Eine neue Ära der Globalisierung mit ihrer Betonung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit war angebrochen. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde die Hegemonie einer einzigen Macht, der USA, weltweit durchgesetzt. Atomwaffen befinden sich zwar immer noch in den Arsenalen der Großmächte – auch wenn es weniger sind als auf dem Höhepunkt der Konfrontation – aber die Angst vor ihrem Einsatz hat nachgelassen. Noch gefährlicher ist, dass Generationen von Politikern an die Macht gekommen sind, die weder durch die Erinnerung an die jahrzehntelange Konfrontation noch durch ihr Verantwortungsbewusstsein belastet sind.