Von Wolfgang Effenberger – 2. Februar 2023
[…] Heute ist es kaum mehr zu glauben, dass noch vor gut acht Jahren, nur fünf Wochen nach der Vorstellung des TRADOC-Pamphlets 525-3-1 „Win in a Complex World 2020-2040“ Ende Oktober 2014 Roman Herzog, Gerhard Schröder und mehr als 60 andere Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien sich an dem Aufruf „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!” beteiligten, vor einem Krieg warnten und zum Dialog mit Russland aufriefen:
„Wir, die Unterzeichner, appellieren an die Bundesregierung, ihrer Verantwortung für den Frieden in Europa gerecht zu werden. Wir brauchen eine neue Entspannungspolitik für Europa. Das geht nur auf der Grundlage gleicher Sicherheit für alle und mit gleichberechtigten, gegenseitig geachteten Partnern. Die deutsche Regierung geht keinen Sonderweg, wenn sie in dieser verfahrenen Situation auch weiterhin zur Besonnenheit und zum Dialog mit Russland aufruft. Das Sicherheitsbedürfnis der Russen ist so legitim und ausgeprägt wie das der Deutschen, der Polen, der Balten und der Ukrainer.
Wir dürfen Russland nicht aus Europa hinausdrängen. Das wäre unhistorisch, unvernünftig und gefährlich für den Frieden. Seit dem Wiener Kongress 1814 gehört Russland zu den anerkannten Gestaltungsmächten Europas. Alle, die versucht haben, das gewaltsam zu ändern, sind blutig gescheitert – zuletzt das größenwahnsinnige Hitler-Deutschland, das 1941 mordend auszog, auch Russland zu unterwerfen.
…
Wir appellieren an die Medien, ihrer Pflicht zur vorurteilsfreien Berichterstattung überzeugender nachzukommen als bisher. Leitartikler und Kommentatoren dämonisieren ganze Völker, ohne deren Geschichte ausreichend zu würdigen. Jeder außenpolitisch versierte Journalist wird die Furcht der Russen verstehen, seit NATO-Mitglieder 2008 Georgien und die Ukraine einluden, Mitglieder im Bündnis zu werden. Es geht nicht um Putin. Staatenlenker kommen und gehen. Es geht um Europa. Es geht darum, den Menschen wieder die Angst vor Krieg zu nehmen. Dazu kann eine verantwortungsvolle, auf soliden Recherchen basierende Berichterstattung eine Menge beitragen.“
Für einen derartigen von Verantwortung getragenen Aufruf würde man heute wohl kaum 60 Prominente finden. Sie würden vermutlich als Russland- und Putin-Versteher an den medialen Pranger gestellt werden. Merkwürdig genug, dass bereits das Verstehen der Position der anderen Seite geächtet wird, wo wir uns in unserer westlichen „Diskursgesellschaft“ doch so viel auf den Dialog und das gegenseitige Verständnis einbilden.
Wir brauchen dringend eine Kultur des Verstehens und Verständigens, eine Kultur des Friedens!